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Liebe Freibergerinnen und Freiberger,

der Predigttext für den Sonntag, 22. März steht beim Propheten Jesaja und lautet:

Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie liebhabt. Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet´s sehen und euer Herz wird sich freuen und euer Gebein soll grünen wie das Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten. (Jes.66, 10-14)

Auf den ersten Blick scheinen die Worte Jesajas völlig unpassend zu sein angesichts der Krise, die wir erleben. Denn worüber sollten wir uns freuen derzeit? Es fühlt sich doch alles an, als wären wir „herausgerissen aus dem Leben“, ein Satz, den wir aus manchen, besonders erschütternden Traueranzeigen kennen. Ich will ihn deshalb nicht leichtfertig anwenden. Und dennoch teile ich mit vielen Menschen seit einigen Tagen einen Gemütszustand, der sich anfühlt, als wären wir in plötzliche Trauer geraten. Denn nahezu alles, was bislang normal und üblich war, ist gestoppt worden, geschieht nicht mehr. Plötzlich hat der Lebenszug angehalten, - es ist ein Halt auf freier Strecke. Neben Besorgnis um berufliche Existenzen und dauernder Verunsicherung hinsichtlich des richtigen Verhaltens belastet vor allem diese lähmende Ohnmacht. Sie quält uns damit, dass wir nicht kämpfen können wie bei anderen Krisen, anderen Krankheiten, sondern eigentlich nur stillhalten und voneinander fernbleiben. Und die wirklich Kranken, das kommt noch hinzu, die wirklich Kranken müssen wir bewusst alleine lassen, uns von ihnen absondern: Was für eine furchtbare Umkehrung aller üblichen Verhältnisse, aller sittlichen Gebote!

Herausgerissen aus dem Leben, so fühlt es sich an. Oder wie aufgewacht in einem anderen, schlechteren Leben, das wir bislang nicht kannten.

Wer oder was kann uns trösten?

Jesajas Worte scheinen auf den ersten Blick unpassend zu sein. Doch dann, ganz langsam, fange ich an nachzudenken – und lasse seine Bilder wirken. Freuen sollen sich alle, die Jerusalem liebhaben, die traurig waren über Jerusalems Schicksal. Freude herrscht in einer Stadt, die Trauer erlebt hat. Doch wo gibt es das, solche Freude angesichts von Trauer? Ist das nur Zukunftsmusik?

Nein, denn auf einmal sehe ich die singenden Italienerinnen und Italiener vor mir, die abends auf den Balkonen ihrer Städte stehen und Corona und dem Tod zum Trotz singen, was das Zeug hält, die Fahnen in der Hand. Menschen, die vorher nie auf die Idee gekommen wären, miteinander zu singen, sie tun es. Und ich sehe und kenne welche, die abends um acht Kerzen anzünden und in die Fenster stellen und für andere beten. Ich sehe junge Leute, die ihren alten Nachbarn etwas einkaufen. Das ist echte Freude, ist Trost mitten im Leid, ist auch ein ganz tiefes und neues Bewusstsein davon, dass wir alle miteinander verbunden sind und keiner eine Insel ist – und fühlt sich an wie eine volle Mutterbrust für ihr weinendes Kind. Ja, Jesaja hat recht: Wie ein weinendes Kind komme ich mir in den letzten Tagen vor. Deshalb tut solch ein Trost besonders gut. 

Und vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass wir uns fragen: Wo sind wir denn alle hingerannt die ganze Zeit? Was für ein Leben haben wir geführt? Selbst Nationaltrainer Jogi Löw ließ sich mit den Worten hören: „Wir haben immer nur an Leistung und Optimierung gedacht und dabei ein enormes Tempo vorgegeben.“  

Und jetzt ist auf einmal etwas anderes dran. Jetzt geht es um Solidarität, um die der Starken mit den Schwachen, es geht um den Schutz des Lebens, es geht um das Miteinander in der Gesellschaft, und zwar nicht nur hier, sondern weltweit. Keine Politik kann sich mehr rühmen, es besser zu können, ob kapitalistisch oder kommunistisch. Alle hat es getroffen. Alle müssen sich neu ausrichten. Und ganz nebenbei tut es der Schöpfung, dem Weltklima tatsächlich gut, dass wir weniger fahren, weniger fliegen, weniger Ressourcen verbrauchen. Die Kanäle in Venedig sind so sauber wie noch nie…

Auf die alten Worte der Bibel zu hören, scheint also doch nicht umsonst zu sein. Sie haben oft den Effekt, dass wir anfangen nachzudenken. Und anders zu sehen, anders zu hören, anders zu bewerten. „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, schreibt Jesaja. 

Der vor drei Jahren verstorbene Pfarrer Jörg Zink hat einmal über die Bibel geschrieben:

Es gibt Menschen, die die Bibel nicht brauchen. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich habe die Bibel nötig. Ich brauche sie, um zu verstehen, woher ich komme. Ich brauche sie, um in dieser Welt einen festen Boden unter den Füßen und einen Halt zu haben. Ich brauche sie, um zu wissen, dass einer über mir ist und mir etwas zu sagen hat. Ich brauche sie, weil ich gemerkt habe, dass wir Menschen in den entscheidenden Augenblicken füreinander keinen Trost haben und dass auch mein eigenes Herz nur dort Trost findet. Ich brauche sie, um zu wissen, wohin die Reise mit mir gehen soll.

Es wird also weitergehen, auch nach dieser Zeit, in der wir uns befinden. Von dieser Gewissheit dürfen wir heute schon zehren, trotz großer Sorgen und Nöte.                                                                   

Pfarrer Andreas Bührer

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