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22.11.2020 - Predigt am Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag

Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag 2020, 22.11., 10:30 Uhr, Friedhof Beihingen

Text: Offenbarung 21, 1-7

Liebe Gemeinde,

„dieses Jahr 2020“, so höre ich immer wieder, so wird mir immer wieder gesagt, „ist ein Jahr, das es nicht gebraucht hätte.“ Nicht auf dieser Welt, nicht in diesem Land, nicht in unserer Familie.

Denn es hat doch fast alles verändert, uns fast alles genommen, was uns lieb und teuer war, es hat die Menschen voneinander getrennt, uns zur Distanz verpflichtet, es hat uns den warmen Händedruck, die liebevolle Umarmung geraubt, es hat den Besuch bei der Verwandtschaft eingeschränkt, das schöne Geburtstagsfest verdorben, die geplante Hochzeit verhindert.

Und es hat uns einen lieben Menschen genommen.

Dieses Jahr 2020 hat die Kranken isoliert, es hat auch Krankheit und Schuld wieder miteinander verbunden, es hat den Tod befördert, den sozialen Tod und den physischen Tod durch eine vor einem Jahr noch gänzlich unbekannte Krankheit.

Das Jahr 2020, sagen viele, ist ein Jahr zum Abhaken, zum Wegstreichen aus dem Kalender, ein schlimmes Jahr.

Und es hat uns einen lieben Menschen genommen. Den Partner, die Partnerin, die Mutter, den Vater, den Bruder, die Schwester, das eigene Kind.

Das Leben vor diesem Jahr war ein ganz anderes. Nichts mehr oder nicht mehr viel ist noch so, wie es war.

Auch heute morgen erleben wir diese Veränderung, denn wir treffen uns nicht in der Kirche wie sonst, sondern hier auf dem Friedhof, am gemeinsamen Ort unserer Trauer, doch auf Abstand gestellt.

Wie gerne würden wir miteinander die Klage in ein Lied verwandeln, uns an die Hände fassen, eine Gemeinschaft bilden, vereint im Schmerz, doch so bleibt uns nur der scheue Blick, vielleicht ein Blinzeln mit den Augen über der Maske, das Zunicken mit dem Kopf im Moment der Erkenntnis: Der andere, die andere ist auch hier. Auch er und sie sind hierhergekommen, sind trostbedürftig wie ich.

Vielleicht machen wir das jetzt einmal ganz praktisch, dass wir einander anschauen und verstehen:

Ich bin nicht allein.

Schauen wir den anderen und die andere an und erkennen:

Ich bin nicht allein mit meinem Schmerz, ich bin nicht allein mit meiner Trauer, ich teile sie mit Ihnen, mit dir. Nehmen wir uns Zeit für diesen AUGENBLICK im wahrsten Sinne des Wortes. Wir alle sind eine Gemeinschaft von liebenden Menschen, denn sonst wären wir nicht hier. Trauer ist nichts anderes als Liebe, Liebe für einen Menschen, der nicht mehr da ist, Liebe, die alleine bleibt in meiner Seele,

die verwaist ist, die sich so gerne wieder festhalten würde beim anderen.

Trauer ist unbehauste Liebe, hat jemand mal gesagt.

Dieses Jahr 2020 hat die ganze Welt, uns Trauernde im Besonderen zu unbehausten Seelen gemacht. Und darum ist es so wichtig, so hilfreich, wenn wir mit den Augen sehen und mit den Herzen fühlen: Ich bin doch nicht alleine. Heute Morgen bin ich nicht alleine, andere sind da, die ähnlich fühlen und empfinden wie ich, die eine kleine oder große Last zu tragen haben.

Und vielleicht ist das ja ein Anfang oder ein Schritt voran. Ein kleines Zeichen für eine neue Haltung. Ein neuer Blick auf das eigene Leben und auf diese verletzte Welt. Eine zarte Hoffnung darauf, dass eines Tages eine ganz andere Zeit kommen möge, in der die alten Gesetze von Sieg und Niederlage, von Triumph und Tränen nicht mehr gelten. Eine Welt ohne gefährliche Egoismen, ohne Verächtlichkeit, ohne Hass und Gleichgültigkeit. Eine Welt, in der nicht mehr nach Gott voller Verzweiflung geschrien werden muss und in der niemand im Namen eines irregeleiteten Glaubens andere Menschen quält oder tötet.

Sondern eine Welt, deren Geschöpfe im Frieden sind untereinander und mit Gott, weil sie von Menschen bestimmt ist, die diesen Frieden in sich tragen und ausstrahlen. Und wo es keinen Tod mehr gibt und kein Geschrei, keine Tränen, weil Gott selbst da ist.  

Eine Welt, wie sie im vorletzten Kapitel der Bibel beschrieben wird, im Buch der Offenbarung des Johannes, ich lese den Predigttext für heute:

(Text: Offenbarung 21, 1-7)

Liebe Gemeinde,

bis heute berühren mich diese Worte sehr. Weil hier jemand bereits vor rund 2000 Jahren eine neue Welt sieht, nach der ich mich ebenfalls sehne. Eine neue Welt erträumt, die ich ebenfalls erträume.

Und ich kann mir vorstellen, ja, ich glaube, dass ich damit nicht alleine bin unter Ihnen, unter euch. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass die Träumer und Seherinnen mehr geworden sind in diesem Jahr.

Und darum will ich mich nicht mehr schämen dafür. Früher hieß es doch immer gleich, wenn man so etwas aussprach: Ja, ja, träume ruhig weiter, Es wird eh nicht anders. Die Gesetze und Spielregeln sind nun mal, wie sie sind.

Doch heute will ich mich für meine Träume nicht mehr schämen, ich will mir nicht mehr einreden lassen, es ginge nicht anders. Denn das Jahr 2020 hat uns zwar vieles zugemutet, uns mit Lasten beschwert, aber es hat auch in vielerlei Hinsicht gezeigt, dass es anders geht, wenn es anders sein muss. Nicht bequem natürlich, nein, aber doch möglich.

Ich habe also einen Traum, liebe Gemeinde, einen Traum wie einst Martin Luther King, und ich sehe viele Anzeichen dafür, dass er in Erfüllung gehen kann.

Schauen wir also hin, öffnen und unsere Augen und Herzen:

Wer hätte gedacht, wie groß die Sehnsucht nach der eigenen Familie sein kann? So eigenartig das klingt: Aber es sind die Beschränkungen, die uns träumen lassen von echter Nähe und Geborgenheit.

Wer hätte gedacht, dass so viele Menschen aufstehen und gegen diejenigen protestieren, die sie mit Gewalt unterdrücken? So eigenartig es klingt: Die politischen Machthaber und Unterdrücker dieser Welt lassen immer mehr Menschen für ihre Freiheit aufstehen! Hongkong und Belarus lassen uns träumen!

Wer hätte gedacht, dass die Welt über die Tapferkeit eines 17jährigen Mädchens staunt, das so gar nicht die gängigen Klischees von tollem Aussehen und mediengerechter Oberflächlichkeit bedient? Es geht doch auch um einen anderen Blick auf das, was Menschen ausmacht! Auch um einen anderen Blick auf Frauen. Greta lässt uns träumen!

Und abgesehen davon: So viele unnötige Flugreisen sind in diesem Jahr ausgefallen, auch die Autobahnen waren zeitweise leer. Wer hätte sich so etwas vorstellen können vor einem Jahr?

Und wer hätte gedacht, dass es in diesem Jahr gar nicht so wichtig ist, was wir einander an Weihnachten schenken als vielmehr, auf welche Weise wir es miteinander feiern? Nie zuvor wurde ich so oft gefragt, wie die Kirche Gottesdienst feiern wird. Es ist verrückt, aber der eingeschränkte Konsum hat nicht nur wirtschaftliche Nachteile, er lässt uns auch träumen von einem Weihnachten, das wieder durch seine Inhalte glänzt und nicht durch seine Äußerlichkeiten!

Ich möchte Ihnen und euch heute zurufen: Wenn auch wir zu der einen oder anderen Gruppe gehören, dann lebt auch in uns der Traum von Johannes stärker als je zuvor! Dann sind wir auch nicht allein mit unserem Traum. Dann müssen wir uns nicht mehr schämen für unsere Sehnsucht.

Dann – und daran hege ich keinerlei Zweifel - würden auch viele Tränen versiegen, die jetzt noch geweint werden. Tränen der Hoffnungslosigkeit, Tränen über die ausgefallenen Ernten, über die verlorene Heimat, Tränen der überall grassierenden Einsamkeit.

Jedoch – so mögen vielleicht nun Ihre Gedanken sein – kann mir denn das alles helfen, wenn ich in Trauer bin um einen lieben Menschen? Kann ich von dieser Vision, von diesem Traum des Johannes auch etwas haben, das mir hilft, wenn ich doch einen lieben Menschen verloren habe? Einen, der mein Leben verlassen hat und das seither nicht mehr ist, wie es war?

Johannes schreibt: „Gott wird ihr Gott sein, und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.“

Für mich ist es dieser kurze Anfang und der Schluss, der alles sagt, der den ganzen Trost beinhaltet: Gott wird ihr Gott sein, denn das Erste ist vergangen. Vergangen ist die Welt des Streits, die Welt der Egoismen, die Welt des Geldes, der Macht, Gott ist nun wirklich ihr Gott. Nicht mehr der eigene Wille, der bewunderte Star, die Ideologie, der Traum von der Macht, vom großen Erfolg.

Und wo das so ist, wo Gott alles sein darf und sein kann, da ist vollkommener, erfüllter Trost. Da gibt es das Dunkle nicht mehr, die Verzweiflung, die Tränen, die Not. Je stärker er in unseren Seelen wohnen darf, und das gilt schon heute, je weniger wir selbst nach anderem Trost jagen, uns ablenken, uns antreiben, desto mehr kann er uns wirklich, von innen heraus trösten.

Kann unsere Fragen zur Ruhe kommen lassen, unseren Schmerz verwandeln in Wärme, unser Nein langsam aber sicher in ein Ja verwandeln. Ja, der Tod war da. Aber er hat nicht das letzte Wort. Ja, er ist stark, doch die Liebe ist stärker. Ja, er drückt mich runter, aber Gott richtet mich auf.

Wollen wir gemeinsam von einer Welt träumen, in der Gott wirklich unser Gott ist? Und nichts anderes? Wo das Erste, das Leid und die Not und das Geschrei vergangen sind?  

Das Jahr 2020, so schwer es auch war und ist, hat die Träume zu neuem Leben erweckt. Und vor allem den einen Traum, die Vision einer neuen Welt.

Wenn wir viele sind, die da träumen, dann kann dieser Traum immer mehr zur Wirklichkeit werden.

Amen.

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