Text: 4. Mose 6, 22-27
Liebe Gemeinde,
„im Segen wendet sich das Blatt. Wir schauen für einen Moment lang nicht auf die nächste Tat, denn ein anderer Blick ruht auf uns. Segen ist Gruß, Glückwunsch. Versprechen. Wer ihn zuspielt oder bekommt, lässt sich das Gute gefallen.“
Mit diesen Worten beginnt Johannes Schick seine Meditation über den „aaronitischen Segen“, mit dem wir es heute zu tun haben. Auch wenn der Begriff fremd klingt: Wir kennen ihn gut, diesen aaronitischen Segen. Denn er erklingt in der Regel immer am Ende des Gottesdienstes.
Er heißt aaronitisch, weil er mit Aaron, dem Bruder Moses in Verbindung gebracht wird. Dieser Aaron war ja, wie die Eingefleischten wissen, so etwas wie das Sprachrohr des rhetorisch weniger begabten Mose. Deshalb wurde er auch von Gott zum Priester bestimmt, Aaron, der Sprecher, er und seine Nachkommen. Und priesterlich ist seither auch die Aufgabe des Segnens. Die Weitergabe der Kraft, der Fürsorge, des Behütens und Ermöglichens. Gottes Kraft. Sie ist in traditioneller Weise dem Priester, dem Pfarrer vorbehalten. Das ist seine Rolle, sowie das Tischgebet beim Kaffeekränzchen: „Herr, Pfarrer, könntet Sie mit ons beta?“ Rollenzuschreibungen sind das, obwohl schon klar ist, dass nicht der Pfarrer selbst segnet, sondern Gott das tun will und er jemanden braucht, der das ausspricht. –
Oder ist das vielleicht gar nicht mehr klar? Und kann nicht jeder andere auch den Segen sprechen?
Schauen wir auf den Text, der dieser Predigt zugrunde liegt, er steht im 4. Buch Mose, Kapitel 6, 22-27.
„Und der HERR redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Kindern Israel, wenn ihr sie segnet:
Der HERR segne dich und behüte dich;
der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
Denn ihr sollt meinen Namen auf die Kinder Israel legen, dass ich sie segne.“
Das erste, was mir aufgefallen ist. Der Segen entsteht aus einer Kette, aus einer Weitergabe. Der Herr spricht zu Mose und gibt ihm einen Auftrag: Sage Aaron, was er zu den Kindern Israel sagen soll, wenn er sie segnet.
Gott (Jahwe) – Mose – Aaron – die Kinder Israels. Ein Dreiklang des Weitergebens durch Gott, durch Mose und Aaron. Und ein Dreiklang des Empfangens durch Mose -Aaron und den Kindern Israels.
In Wirklichkeit aber geschieht diese Systematik nur, damit ich, Gott die Kinder Israels segne. Und das will ich. Das ist meine Absicht.
Das wird hier im Schlusssatz deutlich: Nicht Mose segnet. Auch nicht Aaron. Sondern sie reden diese Worte des Segens, durch die deutlich wird: Gott segnet euch. Er ist der Geber des Segens.
Ich musste dieser Tage sehr stark daran denken, dass ich vor genau 5 Jahren nach Rom aufgebrochen bin. Fünf Jahre, kaum zu glauben, aber so lange ist das her. Und wenn ich mich heute frage, was diese Reise ausgezeichnet hat, dann würde ich sagen: Sie war gesegnet.
Ich wurde vor meinem Aufbruch am Samstagmorgen, dem 6. Juni, gestern vor fünf Jahren, am Abend zuvor gesegnet von meiner Kollegin Beate und meinem Kollegen Matthias und meinem Kollegen Andreas Szczepanek. Hier draußen sind wir gestanden. Das Bild kann man in meinem Buch sehen.
Und am Sonntag, also genau heute vor fünf Jahren, begegnet mir doch morgens diese Autofahrerin oben in Stuttgart-Vaihingen. Sie hatte mich mit meinem Rucksack gesehen, es war schon recht heiß, und sie fragte mich, als sie extra nochmals umkehrte, ob sie mich wenigstens über die Autobahn mitnehmen könne. Ich lachte und sagte: „Das wird nicht viel bringen. Ich will ja nach Rom!“ Worauf sie wirklich wörtlich sagte: „Nach Rom, mitten im Hochsommer? Dann segne Sie Gott!“
Ehrlich gesagt, ich weiß wirklich nicht, ob mir das schon jemand wildfremdes gesagt hatte in einer Situation, die ja gar nichts Religiöses an sich hatte. Aber an jenem Sonntag, heute vor fünf Jahren, sagte dies eine Frau zu mir – und genau das ist dann auch geschehen. Ich war gesegnet. Ich war behütet. Gottes Angesicht leuchtete über mir, und hat es nicht von mir abgewendet.
Und grade anhand dieser Reise kann ich es so gut erklären, was Segen heißt: Eben nicht, dass alles leicht gewesen wäre, ich überhaupt keine Probleme gehabt hätte und letztlich alles ein Spaziergang war. Nein, aber dass es in allem, auch im Schwierigen, auch in der Krise und in den Rückschlägen immer nach vorne ging. Auch wenn ich das natürlich nicht gleich begriffen, nicht verstanden habe, im Gegenteil, ich habe Gott gefragt:
He du, wieso verlaufe ich mich hier, wieso liege ich schon am sechsten Tag mit Fieber im Bett, wieso haben wir jeden Tag über 35 Grad oder wieso schüttet es bei der Ankunft in Rom wie aus Kübeln? Und er zeigte mir dann auf seine typische Art, nicht mit Gewalt, nicht durch nen Schlag auf den Kopf, sondern so ganz elegant, so ganz fein, was ich aus dieser Erfahrung gewinnen kann. Vor allem: Vertrauen, Zuversicht, neuen Glauben.
Und so ein inneres Lachen: Unglaublich, diese Versorgung durch meine Gastgeber, unfassbar, diese Wolke, die Schatten spendet, und den nassen Petersplatz haben wir nun für uns allein.
Segen ist nicht immer sofort sichtbar. Segen spielt sich oft auf einer anderen Ebene ab, nicht unbedingt im Verstand. Sondern dort, wo man es nicht beweisen kann, nicht nachprüfen, sondern nur erzählen.
So ist es eben mit der Religion, liebe Geschwister. Sie lüftet den letzten Schleier nicht. Es bleibt immer etwas Unsagbares, etwas Geheimnisvolles.
Erleben kann man sie nur, kann man Gottes Segen nur, wenn man es aufgibt, selbst für alles sorgen zu wollen und stattdessen ihm etwas zuzutrauen. Wenn man lernt, mit Lücken und Unperfektionen es auszuhalten, damit Gott sich auch noch zeigen kann. Und wenn man sich Zeit nimmt und einfach mal stille hält statt immer nur rumzurennen.
Der aaronitische Segen, liebe Gemeinde, ist ein kunstvolles Gebilde. Im Hebräischen besteht er aus drei Zeilen, die erste Zeile hat drei Worte, die zweite fünf und die dritte sieben, wie Atemzüge, die immer länger werden.
In der Prosa des 4. Buchs Mose sind sie deutlich abgesetzt, wie ein Psalm, wie ein Gedicht, sie fallen aus der Reihe. Schauen wir auf die Worte, dann bedeuten sie folgendes:
Das Wort Segen, barak, umschreibt im Hebräischen das im Gesamten gelingende Leben, wie ich eben betont habe, denn auch Mose, Aaron, oder auch Sara, Rebekka, David und Salomo, all diese Heldinnen und Helden des AT, kennen ja auch Niederlagen, kennen das Scheitern.
Nicht auf die einzelne Erfahrung kommt es an, sondern auf das über dem Ganzen liegenden Geschick, es geht um Wachstum und Gedeihen, Fruchtbarkeit und Glück, auch Wohlstand für Haus, Feld und Tiere. Segen ist Gottes Geschenk und Befehl, letztes darf nicht vergessen werden. Aaron soll segnen und die Gesegneten sollen diesen Segen weitergeben, nicht behalten. Segen, der für sich behalten wird, wird ebenso schlecht wie das Manna, das für den nächsten Tag heimlich aufbewahrt wird.
Das Wort Hüten heißt im Hebräischen schamar, und meint das Bewachen, das Behüten von Herden oder Häusern. Mein erster Hebräisch-Lehrer im Kornwestheimer Pfarrhaus legte darauf Wert, dass das deutsche Begriffspaar „Schmiere stehen“ aus dem Jiddischen stamme und sich genau von diesem Verb schmar ableite. Der, der Schmiere steht, passt auf, dass niemand kommt und die geplante Tat zunichte macht.
So musst du dir das vorstellen, sagte er: „Gott steht für dich Schmiere.“ Ich habe dieses Bild auch nach mehr als 35 Jahren nicht vergessen, weil es Gottes Charakter so wunderbar beschreibt. Er ist sich nicht zu schade, einen solchen Posten zu übernehmen, damit mein Leben gelingt. Er dient mir mit allem, was er hat. An Jesus kann man das besser sehen als an sonst jemandem.
Wenn es heißt, der HERR lasse sein Angesicht leuchten, dann ist da das hebräische Wort Or, das es sowohl als Substantiv gibt und dann „Licht“ bedeutet, als auch als Verb, wo es soviel wie erleuchten meint, und zwar wird im Segen mein Gesicht hell, weil es von Gottes Glanz gute Strahlen abbekommt. Nicht alle Strahlen sind gut, wie wir wissen. Sie können auch krank machen. Aber Strahlen, „die von Gottes Angesicht auf unser Gesicht fallen, sind helle Zuwendung, Anblick, Augenmerk. Gott strahlt sein Gegenüber an, gibt ihm Ansehen“, schreibt Johannes Schick dazu.
Und er erzählt eine Geschichte, die eigentlich einen traurigen Hintergrund hat:
Ein Flüchtlingsbaby kommt quasi allein an Land, da seine Mutter unterwegs ertrunken ist. Eine Tragödie. Doch nun wird es in Empfang genommen mit Wasser, Milch, Keksen und Salben und neuen Kleidern, mütterlich und väterlich zugleich. Man gibt dem Mädchen den Namen Favour, das bedeutet Gefallen, denn im Kreise der Geflohenen wird sie zur Privilegierten, weil andere sie sehen und lieben und dem Unglück entreißen. Als habe sich Gott selbst auf den Weg gemacht, der Retter.
Verstehen wir: Der Segen liegt natürlich nicht im Verlust der Mutter, aber – nachdem dies nun mal geschehen ist – in dem, wie die anderen sich seiner annehmen. Das ist unsere bleibende Aufgabe im Glauben, im Lieben, im Hoffen: Zu erkennen, was an Gutem entsteht, wenn etwas Schlechtes passiert ist. Wenn wir das erkennen, sind wir Menschen, die Erfahrungen mit der Gnade gemacht haben, die aus Gott kommt. Das kleine Mädchen, das nach dem Tod der Mutter normalerweise keine Überlebenschance hätte, wenn es mit der Mutter alleine gewesen wäre, es erfährt Gnade für sein Weiterleben durch die Anderen, die es aufnehmen.
Das meint der Ausdruck: Gott sei dir gnädig. Das ist nur ein Wort im Hebräischen. Wichunnächa. Und kann so viel heißen, was viele unter uns schon erlebt haben. Wenn auf einmal etwas passiert, was mir wie ein unverdientes Geschenk vorkommt, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Gestern traf ich eine katholische Frau, die vor vielleicht zwei Jahren ihren Mann verloren hat, ich kannte beide. Sie erzählte mir, wie sie durch den Kontakt zu einem Frauenorden, bei dem sie immer wieder zu Gast wäre, so unglaublich viel geschenkt bekommen würde, was ihr Leben jetzt, nachdem es nun mal so geworden sei, reich mache. Das ist die Erfahrung von Gnade, liebe Gemeinde.
Dann noch die dritte Zeile: „Er erhebe sein Angesicht auf dich“ – vom Verb nasa, heben, erheben, ausheben, in diesem Fall aufschauen, mit liebendem Blick. Gott schaut zu uns auf mit liebendem Blick, grade das Gegenteil von dem, was wir als herablassenden Blick kennen. Der herablassende Blick will demütigen, klein machen, den anderen kränken, aber wenn Gott hinaufschaut zu uns mit seinen Augen – wieder ganz in der Position des Dienens, dann macht er uns groß.
Er traut uns vieles zu, er lässt nicht zu, dass wir uns kleinmachen und für wertlos halten. Er ist wie ein guter Freund, der uns an unsere Ideale erinnert, wofür wir doch einmal kämpfen wollten und nun müde geworden sind. Er tröstet mich, gibt mir eine neue Aussicht. Wie gut tut das, wenn wir mit wertschätzenden Augen angesehen werden!
Und lege auf dich (und gebe dir) Frieden, Schalom.
Sim schalom gibt es als Wendung nur ein einziges Mal in der Bibel, und zwar hier. Es kennzeichnet den Vorgang als Rechtsakt, Friede ist der verlässliche Bund. Wer in ihn versetzt ist, der spürt: Mir ist ein Platz reserviert. Ich bin vorgesehen bei Gott.
Aus all diesen genannten Gründen, liebe Gemeinde, hoffen Menschen auf den Segen Gottes, ob bei Konfirmationen, Trauungen, Taufen oder auch bei Bestattungen. Sie wünschen sich, ihr Leben nicht unbegleitet, nicht ungefügt leben zu müssen, sie wissen es manchmal nicht genau zu sagen, aber ahnen so etwas wie eine höhere Macht, die es gut mir ihnen meinen soll. Wie bisher schon.
Denn viele haben ein Bewusstsein dafür, dass doch in ihrem Leben vieles gut gegangen ist, was sie nicht sich selbst zu verdanken haben. „Da war jemand bei mir und hat mir geholfen, da bin ich mir ganz sicher“, höre ich dann.
Und wenn auch nicht alles gelingt, was wir tun, so können wir doch in den Menschen das Bewusstsein wachhalten, dass es mehr gibt, als vor Augen ist.
Die Religionslehrerin Inger Hermann erzählt in ihrem Buch über die Erfahrung mit eher entwurzelten Großstadtkindern, wie sie in einer Stunde erlebt, wie diese die zuvor gemalten Bilder anschließend mit Genitalien verzieren. Sie lässt die Schüler – trotz Fluchtimpuls gewähren und die Bilder zur Verwunderung der Schüler noch ordnen. Eine Schülerin, die das Ganze zum Schluss noch kommentieren will, wird von ihrem Mitschüler Gianni jäh unterbrochen: „Halt´s Maul – jetzt kommt der Segen. Ich will in die Pause.“ Und alle sprechen wie immer: „Der Herr segne uns und behüte uns… und gebe uns seinen Frieden.“
Amen.
Pfarrer Andreas Bührer